Leitfragen der Unabhängigen Historikerkommission für alle Forschungsprojekte

Typ: Artikel

Präambel

Im Rahmen des Kernauftrags dieser unabhängigen Historikerkommission muss in allen Untersuchungsbereichen erforscht werden, inwiefern diverse Behörden und Organisationen sowie einzelne Akteure in Unrechtshandlungen und Verbrechen einbezogen waren, davon wussten bzw. für diese eine (Mit-)Verantwortung oder (Mit-)Schuld trugen und wie damit nach 1945 umgegangen wurde.

Wie gestaltete sich die Verwaltungs- und Organisationsgeschichte der Bau- und Planungsbehörden?

Es ist unabdingbar, die Organisationsgeschichte der Bau- und Planungspolitik im Nationalsozialismus (NS) in den Fokus der Untersuchung zu rücken und dabei die Auswirkungen der rassistischen NS-Exklusions- und Expansionspolitik einzubeziehen. Dabei gilt es, Akteure, ihre Karrieren, Laufbahnstrukturen und institutionellen Kooperationen mit anderen auf diesem Feld involvierten Institutionen innerhalb der flexiblen Organisationsformen der Bau- und Planungspolitik und ihrer Behörden im Rahmen der neuartigen staatlichen und gesellschaftlichen Verfasstheit des NS aufzuarbeiten. Entscheidungsstrukturen, Vorstellungen, Verflechtungen und Konkurrenzen zwischen Personen und Institutionen sowie die jeweiligen Kommunikationsräume sollten dabei im Zentrum stehen.

Welche kulturellen Vergemeinschaftungsprozesse prägten die Bau- und Planungsbehörden?

Die analytische Erfassung verschiedener Akteurstypen und Teambildungen dient der Untersuchung von Gruppendynamiken und Selbstmobilisierungen sowie der etwaigen Herausbildung eines gemeinsamen Korpsgeistes – Prozesse, welche die Bau- und Planungspolitik bis in die Ausbildung von Architekten und Ingenieuren prägten und nach 1945 wirksam blieben. Dabei sollte das Augenmerk auch auf den spezifischen Gefühlsregeln der sich bildenden emotionalisierten Gemeinschaften liegen. Verwaltungshandeln besteht eben nicht – entgegen einem auch von den Nationalsozialisten bedienten Vorurteil – darin, dass selbst auf unteren Ebenen motivationslose Beamtenautomaten Anordnungen "von oben" ausführen, sondern offenkundig entwickelten sich in erheblichen Teilen der NS-Verwaltung ideologie- und politikkonforme Initiativen "von unten".

Wie wurde die Bau- und Planungstätigkeit politisiert und ideologisiert?

Betrachtet man "das Politische" als einen Kommunikationsraum, in dem permanent darüber verhandelt wird, wieweit der Zuständigkeitsbereich und Steuerungsanspruch der Politik reicht, so wird deutlich, dass die politische Semantik sich stets mit anderen Semantiken überschneidet. In diesem politisch-ideologischen Kontext gilt es nachzuzeichnen, mit welchem Selbstverständnis in den Bereichen Bauen und Planen über Ästhetik, Funktionalität und Repräsentation gesprochen wurde. Dazu gehören Fragen nach der Anwendung moderner Technologien, der Förderung sozialer und "rassen"-orientierter Rationalisierungsprozesse sowie Fragen, in welchem Ausmaß hierbei auf zeitgenössische Erkenntnisse der Arbeitsphysiologie und –psychologie, der Soziologie und Ökonomie zurückgegriffen wurde, um Leistung und Effizienz im Sinne nationalsozialistischer Zielsetzungen zu steigern.

Wie wurde die Bau- und Planungstätigkeit in der Bevölkerung aufgenommen?

Hier ist zu fragen, mit welchen Mitteln und Inhalten der gesamte Diskurs über Bauen, einschließlich der rezeptionsästhetisch zu erschließenden Wahrnehmungssemantiken, im Sinne des NS geprägt wurde. Auch ist zu fragen, welche Wirkungen diese Dispositionen und Prägungen auf die Aneignungsweisen der Bevölkerung hatten bzw. haben konnten. Besonderes Augenmerk soll dabei den sozialen Zuschreibungen gelten, die das NS-Regime – vor allem im Städte- und Wohnungsbau – zu systemstabilisierenden Zwecken mobilisieren konnte. Hierbei ist zu beachten, dass Bauten als Schnittstelle zwischen Materiellem und Sozialem eine Sinnautonomie besitzen, die nicht in den intendierten Bedeutungsofferten aufgehen muss. Damit rücken jene Quellen in den Vordergrund, aus denen sich Informationen darüber erhalten lassen, inwiefern die datensetzende Macht der gebauten Materialität in visuelle und semantische Formate übersetzt wurde und welche Sinnangebote sich damit in unterschiedlichen Kontexten verknüpften.

Wie lässt sich die NS-Bau- und Planungstätigkeit transnational verorten?

Eine Verengung der nationalsozialistischen Bau- und Planungspolitik auf Ursprünge und Wirkungen, die allein aus der deutschen Geschichte erwuchsen, geht an der Komplexität der historischen Wirklichkeit vorbei. Insbesondere ästhetische Praxisfelder wie die Architektur entwickelten sich in einem transnationalen Beobachtungsraum. Die Produktion und Rezeption der NS-Architektur muss also in diese transnationalen Entwicklungsprozesse eingebettet werden. Auf diese Weise lassen sich auch Gleichzeitigkeiten oder Ungleichzeitigkeiten erkennen, die dabei helfen, die NS-Spezifik in einzelnen Bereichen überhaupt erst sichtbar zu machen.