Ansprache auf der Gedenkstunde der Bundesregierung aus Anlass des nationalen Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung
Rede 20.06.2022
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Ort
Dokumentationszentrum "Flucht, Vertreibung, Versöhnung", Stresemannstraße 90, 10963 Berlin
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Rednerin oder Redner
Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen Klara Geywitz
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident Ramelow,
sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt,
sehr geehrte Frau Bundesbeauftragte Pawlik,
sehr geehrter Herr Bundesbeauftragter Kober,
sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
sehr geehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär,
sehr geehrter Herr Fraktionsvorsitzender,
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen der Bundesregierung begrüße ich Sie herzlich zu unserer Gedenkstunde aus Anlass des nationalen Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung.
Wir haben uns heute im Dokumentationszentrum "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" versammelt.
Es gibt kaum einen besser geeigneten Ort, der mit seiner Dauerausstellung, die Lernen, Erinnerung und Begegnung, aber auch Bildung und Vermittlung rund um das Thema Zwangsmigration zusammenbringt.
Sehr geehrte Frau Stiftungsdirektorin Dr. Bavendamm, herzlichen Dank für die Gastfreundschaft und für die hervorragende Zusammenarbeit mit Ihrem Haus!
Die musikalische Umrahmung meistert auch dieses Jahr ausgezeichnet das Deutsch-polnische Jugendorchester. Vielen Dank dafür!
Meine Damen und Herren,
Flucht ist leider ein Kernthema der Menschheit, Zwangsmigration ist leider Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Vertreibungen, ethnische Säuberungen, Deportationen – sie waren immer eine Waffe, die durch Staaten eingesetzt bzw. billigend in Kauf genommen wurden. Deswegen ist das Gedenken der Opfer eine wichtige staatliche Aufgabe. Dieser erinnerungspolitische Auftrag betrifft jedoch gleichsam die Zivilgesellschaft heute hier u.a. vertreten durch den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, der gleich zu uns sprechen wird.
Sehr geehrter Herr Dr. Fabritius, vielen Dank dafür!
Ich bin dankbar, in diesem Saal auch Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Religionsgemeinschaften und Verbänden zu begrüßen.
Im Kontext der deutschen Geschichte sind Flucht und Vertreibung ein nicht wegzudenkender Aspekt unserer gemeinsamen – also von Staat und Gesellschaft – geleisteten Erinnerungsarbeit. Viele Deutsche sind während und infolge des vom Nazi-Regime begonnenen Zweiten Weltkrieges auch Opfer von Flucht und Vertreibung geworden. Das Leid und der Schmerz dieser bis zu 14 Millionen Vertriebenen prägen unser kollektives Gedächtnis nachhaltig – über Generationen hinweg. Flucht und Vertreibung haben jahrzehntelang nachgewirkt.
Auch in meiner Familie ist diese Erfahrung stark verankert. In der Geburtsurkunde meiner Mutter steht als Name nur Anni Findelkind. In den Wirren der letzten Kriegszeit verlor sie als ganz kleines Kinder ihre Eltern – wahrscheinlich auf der Flucht. Sie strandete in einem kleinen brandenburgischen Dorf und wurde dort von Pflege-Eltern angenommen, die selbst gerade vertrieben worden waren. Die Heimatvertriebenen sind auch Verfechter einer lebendigen Erinnerungs- und Gedächtniskultur, deren Zeitzeugnis die nachgeborene Generation mahnt, sich für ein friedliches Europa einzusetzen.
Diese Friedensmahnung ist heute dringlicher denn je.
Keine vier Monate liegt der Tag zurück, der dem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung bedauernswerte Aktualität verleiht. Denn es ist ein Gedenktag, der am Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen die historischen Dimensionen des Unrechts mit den aktuellen Auswirkungen von Flucht und Vertreibung verbindet. Der Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Putins gegen die Ukraine markiert einen der dunkelsten Tage in der europäischen Nachkriegszeit.
Zugleich ist diese historische Zäsur der Anfang einer Geschichte von Gewalt und Zerstörung, von Entwurzelung, die Geschichte von Flucht und Vertreibung. Unfassbare und schockierende Bilder erreichen uns Tag für Tag.
Städte, die nicht zum ersten Mal einen Vernichtungskrieg erleben, liegen in Schutt und Asche. Bilder von Trümmern, die die Älteren von uns noch kennen. Tief eingebrannte Erinnerungen werden wach. Die Schrecken von damals sind wieder da. Es ist eine Katastrophe, die keine neun Autostunden von uns entfernt und so präsent ist, wie kaum zuvor. Geflüchtete in Europa sind wieder so sichtbar, wie am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Zeitweise bis zu acht Millionen Menschen waren bisher innerhalb der Ukraine auf der Flucht, über sechs Millionen weitere verließen das Land. Rund zwei Drittel aller Kinder des Landes sind geflüchtet.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich keine andere Flüchtlingskrise so rasant entwickelt, wie diese. Junge Ukrainer, die ihre Kinder nicht in die Schule, sondern an die polnische Grenze in Sicherheit bringen, und dann an die Front zurückkehren. Überlebende des Holocaust, die in den Bombengriffen umkommen, nachdem sie tagelang in Kellern ausgeharrt haben, zerstörte Geburtskliniken, über 4.000 ermordete Zivilisten – es kann kaum eine deutlichere Anklage gegen den Kriegstreiber geben. Heimatlos sind heute ebenfalls viele Russinnen und Russen, denen das Regime die Zukunft geraubt hat. Was können wir der Brutalität des Bösen, dieser radikal gefährlichen Mischung aus geschichtsverklärenden Sowjetnostalgie, imperialer Menschenverachtung, Revanchismus, Propaganda entgegensetzen?
Der Krieg hat die Grundfesten Europas erschüttert, aber er hat eine beeindruckende europa- und weltweite Solidarität zu Tage gefördert.
Es ist genau diese Solidarität, die der Aggressor unterschätzt hat. Den unzähligen Helferinnen und Helfern, die mit ihrem unermüdlichen Einsatz die Aufnahme von hunderttausenden Geflüchteten ermöglicht haben, gebührt unser Respekt und unsere Anerkennung. Unter ihnen sind auch viele, deren Familien selbst Fluchterfahrungen gemacht haben und die deshalb aus eigener Erfahrung nachempfinden können, was Vertreibung bedeutet. Der heute herrschende Zusammenhalt in Europa mit einer starken transatlantischen Stütze fußt auf einem gemeinsamen Wertefundament. Diese Einigkeit über die Grundwerte der Freiheit und Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und Pluralität wird heute auf drastische Weise herausgefordert.
Aber unser Wertekonsens wird den spalterischen Angriff überstehen. Er ist den Lehren und Erfahrungen der Europäer, im blutigen zwanzigsten Jahrhundert, entwachsen. Nach unserer unvorstellbaren Kriegsschuld haben sich sehr viele Menschen in Deutschland für Reue, Versöhnung und ein zukunftsgerichtetes Verantwortungsbewusstsein eingesetzt.
Auch die deutschen Vertriebenen haben mit ihrem Bekenntnis zum vereinten Europa in ihrer 1950 verkündeten Charta dazu beigetragen.
Geschichtsrevisionismus und hegemonialer Machtgier gilt es stets entgegenzutreten – mit Engagement für Aussöhnung, Verständigung und Brückenbau, für das auch die Heimatvertriebenen stehen. Versöhnung braucht immer zwei Seiten: Auch diejenigen, mit denen man sich versöhnen will, dazu bereit sein. Beispielhaft hierfür ist die deutsch-polnische Versöhnung. Angesichts des unermesslichen Leids, das Polen im Zweiten Weltkrieg zugefügt wurde, grenzt es geradezu an ein historisches Wunder, wie freundschaftlich wir uns heute verbunden sind.
Zugleich ist Polen heute das Land, das mit die meisten Menschen aufgenommen hat, die vor dem schrecklichen Krieg in der Ukraine geflohen sind.
Meine Damen und Herren,
die heutige traurige Präsenz von Geflüchteten in Europa stellt leider nur einen Bruchteil des weltweiten Flüchtlingsgeschehens dar.
Erstmals sind weltweit mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung. Allein der Krieg in der Ukraine erhöhte die Zahl um 14 Millionen. Flüchtlingskommissar Grandi hat Recht, wenn er zu Frieden und Stabilität als Antwort auf diesen entsetzlichen und alarmierenden Rekord aufruft. "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht"
heißt das mehrfach preisgekrönte Buch der belorussischen Regimegegnerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.
Flucht und Vertreibung hingegen haben sehr wohl viele weibliche – und leider auch viele Kindergesichter. Wir haben zwei Zeitzeuginnen gewonnen, die stellvertretend für ihre Generationen zu uns sprechen werden.
Denn: Flüchten zu müssen, vertrieben worden zu sein – das sind Erfahrungen, die sehr persönlich, sehr intim, sind.
Diese können an die nachfolgenden Generationen weitervermittelt, künstlerisch dargestellt und zeitgeschichtlich aufgearbeitet werden. Aber was es wirklich heißt, seine Heimat zu verlassen, um ins Ungewisse zu ziehen, kann nur jemand begreifen, der es erlebt hat.
Liebe Frau Rohrmoser, liebe Frau Liebert, vielen Dank für Ihre Teilnahme!
Meine Damen und Herren,
heute gedenken wir nicht nur besonders der deutschen Vertriebenen, sondern der Opfer von Flucht und Vertreibung weltweit.
Der Krieg in der Ukraine macht dies erschütternd aktuell. Gerade in diesem Jahr erinnert uns dieser Tag daran, wie wichtig es ist, sich stets für Frieden und Versöhnung einzusetzen.
Wir dürfen nicht müde werden, gemeinsam weiter daran zu arbeiten.
Vielen Dank.